Zum permanenten Prozess von Disposition - Diskussion – Revision - Exposition – Disposition ...
Yoly Maurers Bilder sind – niemals endgültige – Resultate eines vielschichtigen Meinungsaustausches mit sich und ihrer Umwelt. Zunächst stellt die Künstlerin ihre Meinung – gleichsam ihre „Urbilder“ - zur Disposition, in die eingegriffen und Geschichten eingeschrieben werden können. Formen, Farben und Symbole dürfen negiert und übermalt werden, das Thema wird auf der Leinwand aus- verhandelt. Der Bildträger kann dabei zum Projektionsraum unerfüllter Träume oder niemals eingestandener Aggressionen werden. Auf diese Weise gibt sich Yoly Maurer zunächst ungeschützt preis. Rückzug und Revision im Sinne von Überprüfung der Standpunkte bestimmen die folgende Phase, in der die Künstlerin übermalt oder ursprüngliche Malschichten wieder freilegt. Mit der Exposition werden die Werke den BetrachterInnen wieder zugänglich gemacht und die neuerliche Überprüfung kann einsetzen.
Trotz permanenten Meinungsaustausches mit den BetrachterInnen bleiben es IHRE Bilder, die Ausdruck einer individuellen Auseinandersetzung mit der Welt sind.
Isabel Termini


Adnotes zu den Schöpfbildern von Yoly Maurer
(am Beispiel des Projektes 1+366)
Wie viele Gegenstände nehmen wir jeden Tag in die Hand? Wie viele Zeitungen, Bücher, Werbekataloge und sonstige bedruckte Blätter, auf denen die leichte Bewältigung des Alltags gepriesen wird und auf denen die Sonderangebote der Supermärkte gleich Angeln ausgelegt werden? Dazu kommen Gegenstände des täglichen Bedarfs wie Essbesteck, Gläser, Flaschen, Bettzeug, Kleidungsstücke, Tischplatten, Sessellehnen, Telefonhörer, Wahltasten, Türklinken, Fensterriegel, Klingelknöpfe, Zahnbürsten, Kämme, Haarshampoos und weitere Kosmetika. Wir berühren, ergreifen, betatschen, begrapschen und wiegen prüfend jeden einzelnen Tag derart viele verschiedene Dinge in unseren Händen, dass wir die Frage nach der Größenordung der Anzahl nicht nur nicht beantworten können, sondern die meisten gar nicht wirklich registrieren. Wir gebrauchen ganz einfach Dinge und stellen sie danach entweder wieder dorthin zurück, wo wir sie herge- nommen haben (wir sind hoffentlich ordungsliebend) oder wir entsorgen das unnütz gewordene Zeug. Täten wir das nicht, unser Lebensraum wüchse von Populationen unterschiedlicher Art zu. Drucksorten-, Plastikbecher-, Blechbüch- sen-, Ein- und Mehrwegflaschenpopulationen usw. usf. Yoly Maurer hat sich in ihrem Projekt 1+366 vorgenommen, jeden Tag festzuhalten. Und was im ersten Augenblick vielleicht der zum Gassenhauer gewordene Schlager von Udo Jürgen „Ein Tag wie jeder ... „ glauben lässt, nämlich ein Tag sei wie der andere, muss sich eines besseren belehren lassen.
Gewiss der Karawankenschnulzero sinniert von der Liebe, was den Vergleich ein bisschen holprig macht. Wovon sonst sollte man täglich träumen, fragt man sich leicht genervt. Im Schlager wird immer nach der Liebe bzw. deren Ende oder Wiederbelebung gefragt, die Antwort verhält sich im Regelfall wie das Negativ zum Positiv, wenn man mit den irdischen Verhältnissen nur ein wenig vertraut und bereit ist, die weltlichen Gegebenheiten ohne geschönten Blick wahrzuneh- men.
Dennoch kann man sich manchmal nicht des Eindrucks erwehren, ein Tag liefe wie der andere ab, die Unterschiede seien als bloß marginal zu bezeichnen. Der Tagesablauf ist meistens mehr oder weniger nach demselben Muster strukturiert. Schließlich - es wurde bereits in einem anderen Zusammenhang gesagt - sind wir im Regelfall ordnungsliebend. Mit dieser bequemen Vorstellung - ein Tag gliche einem anderen (dem nächsten) wie ein Ei dem anderen - ist es vorbei, wenn man die Schöpfbilder von Yoly Maurer in Augenschein nimmt
Es stimmt eben nicht, ein Tag ist nicht wie jeder andere, sondern anders. Ganz anders sogar. Das Jahr 2008 hatte 366 Tage und jeden einzelnen Tag hat Yoly Maurer durch ein Schöpfbild festgehalten und ihm dadurch ein individuelles Antlitz gegeben, wobei der Begriff „individuell“ zweierlei meint: Einerseits unterscheidet sich jeder einzelne Tag vom vergangenen, der sich von dem davor verstrichenen unterscheidet, wie die Spuren deutlich machen. Andrerseits: Es sind ihre persönlichen Spuren, die sie hinterlassen hat. Jeder einzelne Mensch hat Kontakt mit anderen Gegenständen und Nahrungsmitteln, die ein anderes Bild ergeben würden, fertigte jeder von uns sein persönliches Schöpfbild.
Was ist eigentlich ein „Schöpfbild“? Die Bezeichnung „Schöpfbild“ verweist einer- seits auf den Umstand, dass benutztes Material aus oder mit Wasser auf ein Sieb geschöpft wird, andrerseits sind es Schöpfungen aus jenen Materialien, welche den jeweiligen Tag charakterisieren. Rein technisch gesehen handelt es sich um einen handwerklichen Vorgang, der in mehreren Regionen der Welt entwickelt wurde und als Papiererzeugung allgemein bekannt ist. Yoly Maurer verwendet vorwiegend Hadern zur Herstellung ihrer besonderen Papiere. Aus dem dün- nen Papierbrei schöpft sie das Blatt mit Hilfe eines sehr feinmaschigen, flachen, rechteckigen Schöpfsiebes von Hand. Die Größe des Schöpfsiebs bestimmt die Größe des Papierbogens . In den dünnen Papierbrei sind entweder die den Tag bestimmenden Materialien wie Gräser, Zeitungsschnipsel, Reste von Plastiktüten bereits beigemischt oder werden während des Vorgangs des Gautschens hin- eingedrückt wie Sand oder kleine Steine. Der nicht mehr alltägliche Begriff des Gautschens kurz erklärt: Er bezeichnet den ersten Entwässerungsschritt nach dem Schöpfen des Papiers, das Ablegen des frisch geschöpften Papierbogens auf eine Filzunterlage, über die Yoly Maurer ein Baumwolltuch legt. Nach der Trock- nung schabt sie das Papierblatt von dem Tuch.
Sie (Yoly Maurer) meint, dass bunte Eierschalen zum Synonym für einen befreiten fröhlichen Tag werden und Goldfarben auf besonders inspirative Stunden hin- weisen. Lässt man den Blick über die einzelnen 366 abstrakten Tagesprotokolle streifen, wird sofort erkennbar: Buntere - also fröhlichere bzw. ereignisreichere Bilder befinden sich neben grauen - also faderen Tagen. Nimmt man nun die einzelnen Bilder in Augenschein sieht man, dass sich Yoly Maurer einerseits einer alten handwerklichen Technik bedient, doch andrerseits einen Vorgang des Recycelns vornimmt. Der achtlose Vorgang des Wegwerfens von Gegenständen wie Verpackungsmaterialien, Werbebroschüren, Zeitschriften und Zeitungen ist bei ihr nicht möglich. Sie muss bei jedem Gegenstand die Frage stellen, was bedeutet das für die Charakteristik eines Tages. Sicherlich kann sie nicht alles verwenden, doch aus Abfall wird Rohstoff für ihre Kunst. Da bekanntlich beim Recycling zwischen Upcycling und Downcycling unter- schieden wird - aus Abfallstoffen können hochwertige oder minderwertige Pro- dukte hergestellt werden - ist die Tätigkeit, die von der Künstlerin vorgenommen wird, als besonders hochgradiges Upcycling zu bezeichnen. Was gibt es Kostbareres als Kunst, in der Handwerk, Ästhetisierung und Verstand zu einander finden? Anders gesagt: In dieser stark handwerklich orientierten Kunst sucht Yoly Maurer den Dialog zwischen der arbeitenden Hand und dem sehenden Auge ins Bild zu rücken.
Vorher habe ich nach der Zitierung eines Schlagers des kärntnerischen Barden die Frage gestellt, wenn man nicht von der Liebe träumt, wovon dann? Die Frage hat nun eine wenig romantische Antwort gefunden: den achtvollen (achtsamen) Umgang mit Gegenständen. Was nicht zwangsläufig meint, man solle jedes Plastiksackerl in Demut ergreifen und jede Postwurfsendung mit erfurchtsvollem Schauer, sondern: Wie können wir das eine oder andere Mal mit der Menge an Gegenständen bewusst umgehen. Wenn man will, ließe sich ein unaufdringliches „carpe diem“ erkennen.
Die 366 Bilder sind als Spirale gelegt, von innen beginnend und nach außen sich nach rechts drehend. Bekanntlich ist eine Spirale eine Kurve, die um einen Punkt oder eine Achse verläuft und sich je nach Laufrichtung von diesem bzw. dieser entfernt oder annähert. Interessanter ist die Laufrichtung: nach rechts. Dies ist die Richtung des Lebens, während die Richtung nach links den Weg zum Tod symbolisiert. So gesehen, ist das zu einem Gesamtbild gewordene Jahr eine Aufforderung und ein Zeichensetzen zum bewussten Leben.
Man mag nun denken: Wer Kunst schaffen möchte, sollte sich Materialien bedienen, die eine gewisse Stabilität und Dauerhaftigkeit in sich tragen. Stein- skulpturen und Eisenplastiken würde man solch eine Beständigkeit am ehesten zutrauen. Doch Papier, ist das nicht besonders gefährdet? Dem ist entgegenzu- halten, dass Papiere als Beschreibstoff sich bereits für das dritte vorchristliche Jahrtausend nachweisen lassen. Das bedeutet: Bei günstiger Lagerung können sich noch Menschen im Jahr 7000 und etliches an den Arbeiten von Yoly Maurer erfreuen. Doch das nur nebenbei.
Sicher ist, dass sich die Bilder, wenn sie dem Licht ausgesetzt sind, verändern werden und so wie die Erinnerungen an die meisten Ereignisse schwinden, wird auch jeder Tag des Jahres 2008 vermutlich an Strahlkraft verlieren. Dieser Aspekt bedeutet mir am meisten: Wenn ich mir die Verkünder von angeblich ewig geltenden Wahrheiten anhöre, beschleicht mich Ungemach. Ewig gültig und ab- solut unverrückbar. Gab es nicht schon einiges, was für die Ewigkeit gedacht war und dann verschwand? In die eigene Kunst die Vergänglichkeit zu integrieren, ist doch ein Hinweis darauf, dass alles, was uns umgibt inklusive dem, was wir sind, irgendwann einmal vergangen sein wird. Was nicht Bedeutungslosigkeit bedeutet!
Helmuth A. Niederle